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cybershredder
Sep 16, 2022 12:51 AM

Liegt die EZB doch richtig? 

United States Inflation Rate YoYTrading Economics

Description

Inflation ist in aller Munde. Überall und jederzeit.
Aber Inflation ist nicht gleich Inflation.

Die EZB steht mit ihrer Zinspolitik heftig in der Kritik viel zu spät zu reagieren und viel wenig gegen die Inflation zu tun.
Ich habe mir mal die beiden großen Wirtschaftsräume USA und EU und ihre jeweiligen Notenbanken die FED und EZB dazu angeschaut.

Das ist ein Versuch die unterschiedlichen Arten der Inflation grob vereinfacht darzustellen.
Es geht hier (außer ganz am Ende) nicht um meine persönliche Meinung, sondern wie die Notenbankpolitik der FED und EZB durch ein anderes Zahlenwerk begründet ein könnte.

Gemeinsamkeiten:
-Beide Wirtschaftsräume haben ein massives Inflationsproblem
-Beide Wirtschaftsräume haben die Inflation nicht unter Kontrolle
-In beiden Wirtschäftsräumen ist die Inflation nicht mehr "temporary"

Unterschiede:
-USA haben vor allem eine strukturelle, klassische Inflation und ein vergleichsweise kleines Energiekostenproblem, was sich an der hohen Kerninflation zeigt. Der gesamte Warenkorb ist betroffen inklusive einer Lohninflation.
-Die EU hat vor allem ein Energiekostenproblem und weniger eine strukturelle Inflation.
-Die USA hatten deutlich früher eine erhöhte Inflation und die FED hat entsprechend früher begonnen die Zinsen anzuheben.
-Die spätere Inflation in der EU und eine andere Zusammensetzung der Inflation sind sogar gute Argumente, warum die EZB vergleichsweise spät tätig wurde.

Die klassische Nachfrageinflation in den USA ist wohl darin begründet, dass die US-Hilfspakete deutlich umfangreicher waren als in der EU.
Es wurde quasi Helicoptergeld abgeworfen. Arbeitnehmer bekamen teilweise mehr Hilfszahlungen als in ihren regulären Jobs.
Die hohen Energiepreise treffen die USA zwar auch, aber sie machen einen vergleichsweise niedrigen Teil der Inflation aus.
Das gute daran: Die klassische Nachfrageinflation kann mit höheren Zinsen bekämpft werden. Genau das macht die FED mit großer Entschlossenheit.

Die EU erlebt dagegen keine klassische Nachfrageinflation, sondern eine Angebotsinflation, konkret durch einen Gas- und Strompreisschock.
Das Schlechte daran: Hohe Energiepreise kann man nicht mit hohen Zinsen bekämpfen, weil sich die Ursachen von Gasmangel damit nicht beseitigen lassen.
Das dürfte auch der Hauptgrund für das zögerliche Handeln der EZB sein.
Das dürfte ebenfalls dafür sorgen, dass EZB mit ihren Zinsanhebungen deutlich unter denen der FED bleiben wird.
Auch wenn es weh tut: Die EZB kann kaum etwas gegen die hohen Energiepreise machen. Der EZB-Werkzeugkasten gibt das einfach nicht mehr.
Die viel gescholtene EZB mit ihrer vermeintlich zögerlichen Art hat bei genauerer Betrachtung sogar gute Gründe für ihr Handeln.

Ausblick und persönliche Einschätzung:
In den USA sehen wir das Risiko einer permanten bzw. einer längeren Inflation.
Die Zinsen werden entsprechend lange hoch bleiben.
In der EU stehen die Chancen sehr gut, dass die Inflation nicht zu einer breiten Nachfrageinflation ausufert. Schon deshalb, weil wir jetzt schon Anzeichen einer Rezession sehen.
Die EU muss das Energiekostenproblem auf einer anderen Baustelle lösen und wird sich auf die Kerninflation fokussieren.
Allerdings besteht das Risiko, dass die Energiekosten außer Kontrolle geraten und das allein reicht aus die Inflation weiter hoch zu halten.
Der Markt ist an einem Punkt an dem die risikolose Anleiherendite 4,0 bis 4,5% zu einem ernsthaften Problem für Aktien werden.
Der Zeitpunkt einer möglichen Zinswende verschiebt sich nahezu wöchentlich nach hinten, ist damit weiter unklar und muss kurzfristig betrachtet werden.

Claim in eigener Sache:
Das ist der mit Abstand aufwändigste Artikel, den ich hier jemals verfasst habe.
Schuld daran ist eine Anfrage, bei der auch ein kleiner Obolus gerollt ist.
Wenn du ebenfalls Interesse an einer Analyse hast (egal ob Makro- oder Mikroshit), dann kontaktiere mich einfach.
Ist alles Verhandlungssache.
Comments
VictorDWagner
Herzlichen Glückwunsch, deine Idee wurde in unsere Editor's Picks aufgenommen🚀
cybershredder
@vic_wgn, abermals vielen Dank.
Hätte ich nie mit gerechnet, dass ein so kontroverses Thema so gut angenommen wird
VictorDWagner
Herzlichen Glückwunsch @cybershredder, deine Idee wurde zusätzlich noch in unseren Newsletter aufgenommen (+ als Überschrift verwendet) und somit an über 200.000 User verschickt🚀
cybershredder
@vic_wgn, Wow, auch dafür nochmal vielen Dank!
Nordstern
Danke für die Mühe!
cybershredder
@Nordstern, Vielen Dank :-)
TradeAlex1
nein, sie liegt nicht richtig.
viel zu spät gehandelt.
sie hat bisher so viel Geld vernichtet und das nur um die Ländern die schlecht gewirtschaftet haben.
die sparer und alle anderen haben viel Geldwert verloren .

Das ist meine Meinung
TradeAlex1
vielen Dank für dein Artikel. Freut mich immer wenn man Sachen diskutieren kann. 👍
cybershredder
@TradeAlex1, Danke für dein Feedback.
Da scheiden sich die Geister.
Wenn, ja wenn, die EZB nur die Zinsen rechtzeitig erhöht hätte, dann hätten wir die jetzige Inflation nicht.
Ist das wirklich so?
Die Inflationstreiber sind doch hauptsächlich Energie und Nahrungsmittel bedingt durch die Russland-Sanktionen und die immernoch nicht ausgestandene Pandemie mit ihren Lieferkettenproblemen.
Kann man mit Zinserhöhungen den Gasmangel beheben?
Kann man mit Zinserhöhungen Lieferketten wieder auf die Sprünge helfen?
Das sind aus meiner Sicht die zentralen Fragen.
Es ist ja nicht so, dass die Konjunktur in Europa überschäumt und dringend abgekühlt werden muss.
Der Wirkmechanismus von hohen Zinsen zur Inflationsbekämpfung kann hier vermutlich gar nicht greifen, weil eine überhitzte Wirtschaft gar nicht das Problem ist.

Den Gedankengang wollte ich mal in die Waagschale werfen und man das Mittel der Wahl <hohe inflation=Zinsen rauf> durchaus anders sehen kann.
EbbeundFlut
@cybershredder, genau so sehe ich es auch. So einen Artikel würde ich mir im Wirtschaftsteil der FAZ oder des Handelsblattes wünschen,vielleicht würde der den einen oder anderen zum Nach- und Überdenken seines Standpunktes bringen. Schick ihn doch einfach an die Redaktion, ein Versuch wäre es wert. Und vielen Dank für die tolle Arbeit, die Du hier ablieferst.
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